F a m i l i e n Q u i r i n g

 

Am 6. November 1969 kam Wilhelm Quiring mit seiner großen Familie, Kindern und Großkindern, im Lager Friedland in Deutschland an. Er war 76 Jahre alt. Nun sei er in der Heimat, habe er gesagt. So berichtete das «Göttinger Tageblatt». Wilhelm Quiring sei sein Leben lang gewandert. Der Reporter, der tief beeindruckt den Bericht über den «Deutschen Wilhelm Quiring» schrieb, meinte, daß die Irrfahrten des Odysseus, des Helden der griechischen Sage, im Vergleich zu der Weltwanderung des Wilhelm Quiring ein Wochenendausflug gewesen sei. Die Quirings waren in das Auffanglager Friedland gekommen, und dort gehörten sie eigentlich nicht hin. Um unter den Status der Spätheimkehrer zu kommen, heute würde man Aussiedler sagen  und die denen zustehenden Vergünstigungen zu erhalten, hätten sie aus dem Osten kommen müssen. Doch sie waren in Hamburg aus dem Überseedampfer gestiegen, sie waren aus dem Westen gekommen. So mußte Wilhelm Quiring in seinem Alter Sozialhilfe-empfänger werden, und dafür mußte er einen Wohnsitz in einem der Länder nachweisen. Friedland sollte er so schnell wie möglich verlassen. Seine Tochter wohnte schon in der Nähe von Bielefeld, und so fand auch Wilhelm Quiring in LageLippe seine letzte Heimstatt.

 

Wilhelm Quiring erblickte das Licht der Welt 1893 am Kuban. Dort lag am linken Ufer des Flusses, der im Kaukasus entspringt und ins Asowsche Meer mündet, eine der ersten mennonitischen Tochter-kolonien, vielleicht die merkwürdigste, die es je in Rußland gegeben hat. Für die Gründung dieser Siedlung im Jahr1864 mit den beiden Dörfern Alexanderfeld und Wohldemfürst lagen zwei Motive vor, ein offizielles und ein wirkliches. Das wirkliche Motiv war die Enstehung der Brüdergemeinde um 1860 in den Mutterkolonien Molotschna und Chortitza. Das offizielle Motiv, das Johann Claassen, ein Entsandter dieser Gemeinde, dem Zaren Alexander II. in Petersburg vortrug, war die Landnot in den alten Kolonien, die sich gerade in der Zeit der Entstehung der Brüdergemeinde zur Unerträglichkeit zugespitzt hatte. So meinen manche Historiker, daß die soziale Not in den Siedlungen mit den vielen armen und landlosen Anwohnern auch zu dem geistlichen Aufbruch beigetragen habe. Die Armen öffneten sich schneller der neuverkündeten Heilsgewißheit und der freien Gnade, während die Reichen, die landbesitzenden Wirte, lieber in der festen Grundlage der alten Kirchengemeinde blieben.

 

Der «Ehrsame Lehrdienst» der Kirchengemeinde und das «Hochwohllöbliche Gebietsamt» der mennonitischen Selbst-verwaltung taten sich zusammen, und sie setzten die Ausgetretenen,wie die Mitglieder der neugegründeten Gemeinde genannt wurden, unter einen Druck, der einer regelrechten Verfolgung gleichkam, mit Einkerkerung im Dorfgefängnis und körperlichen Strafen. Das war der eigentliche Grund, der Johan Classen, einen der Führer der Brüdergemeinde, dazu trieb, nach Petersburg zu fahren, um. Kronsland für seine bedrängte Gemeinde zu bitten. Dort wollten sie eine Kolonie gründen, um unbehelligt von der Kirchengemeinde und dem Gebietsamt ihres Glaubens leben zu können. Auch die Landnot wäre damit behoben. Seine Bemühungen hatten, wenn auch einst nach einigen Jahren, Erfolg, und der kaukasische Staathalter der Zentralregierung, der Großfürst Michail Nikolajewitsch, erhielt Anweisung aus Petersburg, den zuwandernden Mennoniten die traditionellen 65 Desjatinen Kronsland zu überlassen und sie auch dem Kolonistenstatus zu unterstellen, ein Recht, das die Glaubensbrüder in den Mutter-kolonien den Gemeinden hatten absprechen wollen. Noch in einem anderen Sinn war die Gründung der Tochterkolonie am Kuban eine Besonderheit. Während die Tochtersiedlungen sonst direkt von einer Mutterkolonie herkamen und auch von ihr betreut wurden, waren die Siedler hier aus den An-siedlungen Molotschnaja und Chortitza gemischt. Aus beiden Siedlungen waren Mitgliederder Brüdergemeinde gekommen. Die Solidarität des Glaubens war hier stärker als die Zugehörigkeit zu einer Mutterkolonie. Die Wanderung an den Kuban, fünfhundert Kilometer vom Siedlungsgebiet in der Ukraine entfernt, war also die Folge einer Verfolgung, wie es die Mennoniten in ihrem Selbstverständnis gerne darstellen, doch hier kamen die Verfolger aus den eigenen Reihen. Es waren dann letztlich doch nur fünfundsechzig Familien, die an den Kuban zogen; denn um diese Zeit konsolidierten sich die Verhältnisse inden alten Kolonien allmählich.Unter dem Druck der Regierung in Petersburg und des Fürsorgekomitees in Odessa mußten die Kirchengemeinde und das Gebietsamt die Brüdergemeinde als authentische Mennoniten akzeptieren, obwohl nach deren Meinung viel Pietistisches und Baptistisches aufgenommen worden war. Unter diesen Neusiedlern am Kuban müssen auch die Vorfahren des Wilhelm Quiring gewesen sein, doch ihre Herkunft bleibt im Dunkel. Die Siedlung am Kuban war schon dreißig Jahre alt, als Wilhelm Quiring geboren wurde. Sie hat sich schnell stabilisiert, wie alle Ausländerkolonein unter dem Kolonialgesetz in Rußland. Die Dörfer hatten ihre Schulzen, die Wolost (das Land, die Gemeinde) ihren Oberschulzen und die Siedler bauten auf dem fruchtbaren Land eine blühende Mennonitenkolonie auf, die erst gelöst wurde, als in Rußland vieles mehr zusammenbrach. Doch den internen geistlichen Spannungen, die für die Mennonitenkolonie nun schon typisch geworden waren, konnte auch die Siedlung am Kuban nicht entfliehen. Bald zeigten sich auch hier Strömungen, die der nun herrschenden Brüdergemeinde nicht genehm waren. Zuerst traten die Jerusalemsfreunde auf, auch Templer genannt, die sich um den Prediger Jakob Giesbrecht scharten. Dann gründete Hermann Peters die Brotbrechergemeinde und sonderte sich ab. Abraham Neufeld rief sogar eine Adventistengemeinde ins Leben. «Alles Zeichen», schreibt der Chronist, «wie zugänglich die Kubaner für neue Richtungen im Glauben waren, wodurch aber die Brüder-gemeinde selbst inZeiten schwerer Depression geriet.» Ob das Gründe waren, die die Familie Quiring veranlaßte, wieder zu neuen Ufern aufzubrechen, ist unbekannt. Es mögen auch wirtschaftliche Ursachen gewesen sein, die dazu führten, daß sie zweitausend Kilometer nach dem Osten zog,denn auch in den Siedlungen an der Kuban stellte sich bei der großen Kinderzahl der Familien bald Landnot ein.

Um die Jahrhundertwende begann der Zug der Mennoniten über den Ural nach Sibirien hinein, der Transsibirischen Eisenbahn zwischen Petropawlowsk und Omsk schössen mennonitische Dörfer und Güter wie Pilze aus der Erde. Zu einem weiteren Siedlungsgebiet wurde die Kulundasteppe am Fuße des Altai Gebirges, und genau hier legte sich ein neuer Kranz von Mennonitendörfern um Slawgorod und Barnaul. Wilhelm Quiring war fünfzehn Jahre alt, als seine Eltern in das Gebiet von Slawgorod zogen. Hier in der Kulundasteppe entstand ein Mennonitenland, wie es spätere Autoren genannt haben. Um 1908, als die Familie Quiring eintraf, gab es hier schon dreißig Mennonitendörfer, und es entstand eines der größten zusammenhängenden Siedlungsgebiete der Mennoniten in Rußland überhaupt, mit 10 500 Seelen um 1913. Die Differenziertheit des mennonitischen Glaubens, die den Anlaß zur Entstehung der Siedlung am Kuban gegeben hatte, spielte hier in der Kulundasteppe nicht mehr die entscheidende Rolle. Mitglieder der Kirchen und der Brüdergemeinden hatten es inzwischen gelernt in einer Kolonie friedlich nebeneinander zu leben. Zur ersteren gehörten etwa zwei Drittel der Siedler, zur letzteren ein Drittel. Die Ansiedlung in dieser Steppe war hart, wie jeder Neuanfang, und die Quirings haben hier ein zweites Mal Pionierarbeit geleistet. Sie mußten sich an den langen harten Steppenwinter mit Temperaturen bis zu 40 Grad unter Null und an den kurzen heißen Sommer mit manchmal 40 Grad Hitze gewöhnen. Doch auch die Kulundasteppe wurde ein Weizenland, die Dörfer blühten auf, und sie wurden von den Inspektoren der Regierung als mustergültig bezeichnet. Der Ort Slawgorod, Zentrum der Mennonitensiedlung, wurde 1914 zur Stadt erklärt.

In dieser Siedlung ist Wilhelm Quiring aufgewachsen. Hier wurde sein Glaube in der Gemeinde gefestigt, hier lernte er das, was als mennonitischer Gemeinschaftssinn beim Aufbau von Dörfern und Kolonien gelobt wird. Hier heiratete er und gründete seine eigene Familie. Warum ist Wilhelm Quiring nicht in dieser aufstrebendenMennonitenkolonie geblieben? Den Anstoß für die beiden nächsten Etappen seines Lebens gab der Kommunismus. Auch in Sibirien setzten 1918 die Kämpfe zwischen Weiß und Rot mit aller Heftigkeit und Härte ein, und die deutschen Dörfer um Slawgorod wurden in Mitleidenschaft gezogen. Lange hielt der Ataman Annenkow, der unter Koltschak den Bolschewismus in Sibirien bekämpfte, Slawgorod in seiner Hand, doch als Omsk im November 1919 in die Hand der Roten fiel, machte auch er der kommunistischen Herrschaft Platz.

Die «Neue Wirtschaftspolitik» unter Lenin gab den Mennoniten in der Kulundasteppe einige Hoffnung, daß sich ihr Leben wieder normalisieren würde. Man begann sogar, sich im Genossenschaftswesen zu üben, und die Mennonitendörfer um Slawgorod traten 1923 dem «Allrussischen Mennonitischen Landwirt-schaftlichen Verein» bei, der in der Ukraine gegründet worden war. Die Nationalitätenpolitik der neuen Regierung führte sogar zu einem deutschen Rajon, zu dem alle deutschen Dörfer um Slawgorod gehörten. Doch dann war mit einem Schlag alles vorbei. Stalin zog die Schlingen zu, so empfanden es die mennonitischen und mit ihnen alle freien Bauern in Rußland. Die Kollektivierung mit allen Begleiterscheinungen setzte ein.

Doch Rußland war groß und Stalin, wie man hoffte, weit. Aus dem fernsten Osten drangen Nachrichten nach dem Westen Sibiriens, daß es dort noch Freiheit und sogar Mithilfe gebe, um das frucht-bare Land am Amur zu kolonisieren. Daslockte wieder einmal auch die Mennoniten. Gruppen bei Slawgorod taten sich zusammen, und zu ihnen gehörte auch Wilhelm Quiring mit seiner Familie. Sie wollten es wagen, die Reise von mehrals dreitausend Kilometern auf sich zu nehmen,um noch einmal neue Dörfer anzulegen, von vorne anzufangen, alles um den Preis der religiösen und wirtschaftlichen Freiheit. Sie verkauften Habund Gut und nahmen nur das Notwendigste mit, wozu auch Wagen, Pferde und Rinder gehörten. Von Tatarskaja brachte die Transsibirische Eisenbahn sie auf einer Fahrt durch die schönstenGegenden Sibiriens bis Blagoweschtschensk amAmur. Von dort waren es fünfundsiebzig Werst bis zum Siedlungsland, das angeboten wurde. Diese Strecke legten sie mit ihren Fuhrwerken zurück, und dann entstanden hier in kurzer Zeit drei mennonitische Siedlungen, Schumanowka, Usman und Sawitaja, mit einer Reihe von Dörfern. Das war 1928, und Wilhelm Quiring war fünfunddreißig Jahre alt. Doch dann erreichte die GPU, der Arm Stalins, sie auch hier. Die Kollektivierung der Dörfer wurde angeordnet, Verhaftungen drohten, und der Druck wuchs von Monat zu Monat. Gerüchte von einer großen Auswanderungswelle erreichten 1929 auch die Dörfer am Amur, doch bis Moskau war es sehr weit. Vielleicht wäre auch eine Auswanderung nach Osten hin möglich, über Wladiwostok. Eine Delegation suchte dort den deutschen Konsul auf, doch der sah noch größere Schwierigkeiten als die, die von Moskau herüber-klangen. So war jene große dramatische Flucht über den zugefrorenen Amur am 16. Dezember 1930 der einzige Ausweg, und Wilhelm Quiring war wieder dabei. Einer der sechzig Schlitten, mit denenman die Flucht unternahm, gehörte ihm. Wie zu einem Feldzug zogen sie los, bei Nacht und klirren der Kälte, gut organisiert, bis hin zu einem bewaffneten Geleitschutz, der auf Pferden stets vorne und hinten war. Sie schafften die steile Böschung des Amurufers von drei Metern, die Fahrt über das Eis, und dann waren sie in der Mandschurei. Zwei Jahre lagen die Flüchtlinge in der Stadt Harbin, eng zusammengedrängt in Notquartieren, bis es Professor Benjamin H. Unruh in Deutschland gelang, alle Hebel und Beziehungen in Gang zu setzen, um einen Teil der Gruppe auf einer Fahrt um die halbe Welt nach Paraguay zu bringen, den anderen zwei Jahre später nach Brasilien. Die Harbiner, wie man sie jetzt nannte, kamen im Mai 1932 in den Chaco. In der damals schon bestehenden Kolonie Fernheim legten sie vier Dörfer an.

Im Dorf Karlsruhe siedelte Wilhelm Quiring mit seiner Familie. Als dann 1937 wieder ein großer Aufbruch er folgte und ein Drittel der Siedler Fernheims, enttäuscht durch die Mißerfolge, den Chaco verließ, um im östlichen Paraguay einen neuen Siedlungsversuch zu machen, war Wilhelm Quiring wieder dabei, mit seiner Familie, seinem Wagen und seinen Ochsen. Sie gründeten die Kolonie Friesland, vierzig Kilometer landeinwärts vom Flußhafen Rosario. Familie Quiring siedelte im Dorf Großweide,und sie ging daran, den hohen Urwald zu roden und einen Bauernhof anzulegen. Der Aufenthalt in der Kolonie Friesland wurde für Wilhelm Quiring zum längsten seines Lebens. Fünfundzwanzig Jahre war er daran beteiligt, wieder eine Kolonie nach mennonitischem Muster aufzubauen. Vielleicht wäre er hier sogar zur Ruhe gekommen, wenn sich in seiner Familie nicht einiges verändert hätte. Die Kinder waren erwachsen, sie heirateten, und einige zogen nach Brasilien.

Doch es kam auch einiges mehr hinzu. In denJahren von 1950 bis 1965 erlebten die Mennonitensiedlungen in Paraguay eine schwere Krise. Es war wirtschaftlich allgemein schwierig, und auch die Siedler in Friesland kamen nicht auf den grünen Zweig. Ein Auswanderungsfieber, wie man es nannte, griff um sich, und Wilhelm Quiring ließ sich auch anstecken. Seine Kinder in Brasilien machten ihm Hoffnung auf ein leichteres Leben in Curitiba. Er brach seine Zelte ab und griff zumWanderstab. Das war 1963, und er hatte vor kurzem seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert.

Wilhelm Quiring war immer noch arbeitsam, wie sein ganzes Leben lang. Er arbeitete in der Werkstatt seines Sohnes Jakob mit oder auch auf dem Bau, bis ihn der graue Star daran hinderte. Auch in Brasilien erlebte er Umbrüche mit. Die Mennoniten in den Vorortsiedlungen Curitibas standen in einem Wandlungsprozeß. Sie mußten ihre halb ländliche und immer noch geschlossene Siedlungsform aufgeben, deren Haupterwerbszweig die Milchwirtschaft gewesen war. Die Großstadt überrollte sie, und sie mußten zu städtischen Berufen übergehen. Die stark voranschreitende Integration der Mennoniten in die brasilianische Gesellschaft bereitete den Quirings Schwierigkeiten, und so faßten sie Deutschland als letztes Ziel insAuge.Vielleicht hätte Wilhelm Quiring die letzte große Reise nicht mehr gemacht, wenn er nicht von seinen Kindern gezogen und geschoben worden wäre. Eine Tochter wohnte in Deutschland, und die Kinder in Curitiba drängten ihn. So wurde er 1969 Sozialhilfeempfänger in der Bundesrepublik Deutschland. Zugleich mit der Ankunft der Familie Quiring setzte immer stärker die Umsiedlung von Mennoniten aus der Sowjetunion ein, und damit schloß sich gewissermaßen ein Kreis der großen Wanderung. Viele der Umsiedler kamen auch aus der Kulunda-steppe bei Slawgorod, von wo aus Wilhelm Quiring vor damals vierzig Jahren nach Osten gezogen war. Hätte er, statt die Reise um die halbe Welt zu machen, gewartet, wäre er jetzt auch womöglich aus dem Osten nach Deutschland gekommen, und damit hätten ihm alle Rechte auf eine angemessene Altersrente zugestanden. Doch welchen Preis hätte er dafür zahlen müssen! Die deutschen Siedler in der Kulundasteppe gehörten zwar zu den wenigen, die während des Krieges nicht vertrieben und umgesiedelt wurden. Ihre Dörfer blieben bestehen, und viele haben hier ihr Leben bis in die Gegenwart gestaltet. Das schloß aber nicht aus, daß sie seit 1930 bis weit über das Ende des Krieges hinaus die ganze Härte der kommunistischen Diktatur ertragen mußten. Auf zweitausend wird die Zahl der Personen geschätzt, die in den Jahren 1937 und 1938 allein aus den Dörfern bei Slawgorod verhaftet und verbannt wurden und spurlos verschollen sind. Dann traf auch diese Siedlungen die ganze Härte des Krieges, zuerst mit der Einberufung der Männer im Alter von sechzehn bis sechzig Jahren und aller kinderlosen Frauen in die Arbeitsarmee. Dann kamen auch die ändern Frauen dran, ohne Rücksicht auf die Kinder. Die Arbeitsarmee, das war ein Leben hinter Stacheldraht, aus dem die Deutschen erst Jahre nach dem Kriegsende entlassen wurden. Das Leben und die Wirtschaft in den Dörfern der Kulundasteppe war vollständig zusammengebrochen. Nur alte Männer und Frauen mit den heranwachsenden Kindern waren geblieben, bis dann die Trümmer der Trudarmee heimkehrten.

Als Klaus Mehnert, der deutsche Reiseschriftsteller, die Dörfer bei Slawgorod 1956 besuchte, fiel ihm die Verwahrlosung und Nieder-geschlagenheit der Bevölkerung hier auf. Die Leute begegneten ihm mit Apathie, und als er Kinder auf der Straße nach ihrer Sprache fragte, sagten sie, sie sprechen mennonitisch. Die furchtbaren Jahre hatten bewirkt, daß das Verhältnis der deutschstämmigen Mennoniten im Altaigebiet zu ihrer Heimat gebrochen war, und als sich die Möglichkeit zur Umsiedlung nach Deutschland bot, wuchs die Zahl der Abwanderer von Jahr zu Jahr.

Wilhelm Quiring hat das alles in der Umgebung von Bielefeld, wo sich viele der Umsiedler niederließen, noch wahrgenommen. Wahrscheinlich hat er diesen Schicksalsgenossen die ihnen durch Gesetz zustehende Rente neidlos gegönnt und seinen ruhigen Lebensabend mit der Sozialhilfe genossen.

Er starb 1989 im Alter von 96 Jahren.

 

Von Peter KLASSEN

Paraguay