F a m i l i e n Q u i r i n g

 Hermann und Manfred Quiring mit Bollerwagen auf dem elterlichen   Hof  in Platenhof

Erinnerungen an die Tiege

von Hermann Quiring

 

Etwas ganz Besonderes war es schon, auf einem Bauernhof aufzuwachsen in engem Kontakt mit

der Familie und vielen Anderen, die mit uns im Hause wohnten. Diese vertraute, kleine Welt, in der wir zwei Jüngsten - mein Bruder Manfred und ich - spielten und alles erkundeten, war zunächst eingeschränkt. Die äußerste Grenze war der Gartenzaun zu Möllers und an der anderen Seite die neue Scheune, wo der Ausweg begann.


Zum Leidwesen unserer Muttchen hatte diese kleine, behütete und begrenzte Welt ein gefährliches Loch. Es war der freie Zugang zur Tiege. Gerade diese wenigen Schritte zur schräg abfallenden Böschung zur Tiege waren so verführerisch. Der Blick über das unwahrscheinlich breite Wasser - so empfand ich es - das zu den Ufern hin überall mit Mummeln bewachsen war, faszinierte mich immer aufs neue. Wie gefährlich die Tiege gerade für uns Kinder sein konnte, hatte man uns zu Genüge gesagt. Wie unergründlich tief es in der Mitte des Wassers wohl wäre, hätte ich gerne gewußt und welche Wasserungeheuer sich unter den vielen                   Unser Hof mit dem hohen Mast im Garten, auf Platenhöfer Seite gelegen, grenzte, wie schon gesagt, unmittelbar an das Wasser. Nur ein Fahr- und Fußweg auf dem Tiegendamm entlang, lag dazwischen.

Als ich etwas älter wurde, durfte ich schon mal diesen Weg bis Otto Epp gehen und etwas Hefe zum Backen holen und habe auf dem Heimweg etwas davon genascht. Zur rechten Seite hin führte der Weg am Behrendschen Grundstück vorbei. Dort wohnten unter anderem auch die Leppkes. Die drei Jungen dort wurden später auch unsere Spielkameraden. An der anderen Tiegenseite, unmittelbar unserem Hof gegenüber, wohnten Wohlgemuts. Obwohl die Tiege für uns eine absolute Grenze bedeutete, war der Blick hinüber nicht weit und etwas Interessantes gab es da immer zu beobachten. Herr Wohlgemut war Schiffer und demzufolge war ihr Schiff, - wohl Lomme genannt - in unmittelbarer Nähe am Ufer festgemacht. Immer gab es da etwas zu sägen, klopfen, auszubessern, zu teeren und zu streichen. Ihr Garten und der Platz vor dem Haus verliefen flach zur Tiege hin, wo unten am Ufer eingerammte Pfähle mit entsprechenden Brettern darauf eine kleine Anlegestelle bildeten. Hier war ihr Kahn angebunden und es wurde dort Wasser geschöpft. Links neben einem Schuppen waren mehrere Pfähle und auf jeden waren - nachdem sie gespült worden waren - Nachttöpfe gestülpt zum Austrocknen. Ich muß gestehen, dass ruderte, manchmal sogar stehend mit einem Ruder in der Hand.

Wenn es Winter wurde in der alten Heimat, dann richtig. Schnee zum Rodeln gab es immer genug

und nach einigen eiskalten Nächten war dann auch die Tiege zugefroren. Erst wagten sich die ganz Mutigen aufs Eis und dann, einen Tag später, bevölkerten Kinderscharen das Eis, um Schlittschuhe zu laufen, den Tiegendamm hinab zu rodeln, oder nur zu toben. Alles was Beine hatte befand sich auf dem Eis, nur wir noch nicht! Muttchen erlaubte es erst, wenn der Papa mit einigen Sprüngen die Jahr an.

Eines morgens, wir saßen in der Vorderstube beim Frühstück, - ich erinnere mich noch so, als wäre es gestern gewesen - hörten wir von der Tiege her außergewöhnliche Geräusche. Irgendwer sagte: "Das muß der Eisbrecher sein!" Da gab es für uns Kinder kein Halten mehr und wir sausten so schnell wir konnten zur Tiege. Hier waren wir natürlich nicht die Ersten, die bei dem spannenden Ereignis zusehen wollten, wie der Eisbrecher in immer neuen Anläufen gegen die Eisdecke anfuhr, sich etwas drauf schob und dann unter lautem Knirschen und Knacken die Eisdecke aufbrach. Dieses Schauspiel dauerte noch sehr lange bis zum Anlegeplatz der Brunhilde, aber das war schon außerhalb unserer kleinen Welt.

Einige Jahre später, 1945 - ich war mittlerweile im 3. Schuljahr - hatten wir bekanntlich einenWir kamen mit dem Nötigsten bis nach Grenzdorf, wo wir das Kriegsende abwarteten. All das Schreckliche, das dann über uns und andere hereinbrach, ist ein Kapitel für sich und ich will es schildern.

Am 11. Mai 1945 machten wir uns auf den Weg, um nach Hause zu gelangen. Mit dem Weichselniederung war überflutet worden und so kamen wir nur langsam vorwärts. Es ging vorbei an aufgedunsenen Tierkadavern, abgebrannten Gehöften, bei denen nur noch die Schornsteine aus den verkohlten Trümmern ragten. Am 15. Mai sahen wir in weiter Feme den hohen Mast. Nun wußten wir, daß unser Zuhause nicht mehr weit war. Vielleicht war alles abgebrannt, das mußten wir mit Bangen abwarten. Endlich kamen wir immer näher und bogen hinter Tiegenhof auf die Platenhöfer Chaussee ab. Hier reichte den Pferden das Wasser bis zum Bauch. Da der Ausweg zu tief unter Wasser stand, machten wir einen Umweg über den Tiegendamn1. Aber was machte das schon aus, alle Gebäude standen noch und wir waren glücklich.

Den kurzen Glücksgefühlen folgte bald die Ernüchterung. Im Haus und außerhalb war allesverwüstet. Der Opa, der mit Onkel Heinrich nicht geflüchtet war, war jämmerlich umgekommen. Für all das, was an dieser Stelle geschildert werden könnte und müßte, ist hier kein Platz. (Meine Schwester Irma Habegger-Quiring hat einiges aus dieser Zeit in den TN 1992 geschildert.) Die wenigen Lebensmittel waren schnell aufgebraucht und so wurde auch uns zwei Jüngsten bald klar, daß auch wir unseren Beitrag zu leisten hatten, wenn wir überleben wollten. So waren wir fast jeden Tag unterwegs und durchstöberten leere Häuser nach Brauchbarem, oder wir paddelten mit einem leeren Trog über das überflutete Land von Gehöft zu Gehöft auf der Suche nach Eßbarem.

Viele Platenhöfer, darunter auch einige die wir kannten, waren beim Heranrücken der Front nicht geflüchtet. Wie grausam die Walze des Krieges über sie hinweggegangen sein muß, sah man daran, daß viele von ihnen in der Tiege gefunden wurden.

 So wie wir, kämpften auch alle anderen, die sich wieder einfanden, ums Überleben. Dazu gehörte noch, und war schon einigermaßen normal, daß russische Soldaten von Haus zu Haus gingen, um zu plündern, das Letzte wegzunehmen und Frauen zu belästigen. An der gegenüberliegenden Tiegenseite war das nicht anders. Ich erinnere mich, wie bei Wohlgemuts ein Russe ins Haus wollte. Der Herr Wohlgemut stellte sich in den Eingang, um es ihm zu verwehren. Da gab es ein Handgemenge und der Soldat schlug mit dem Gewehrkolben auf ihn ein.

In der gebotenen Kürze ist nicht annähernd alles Elend jener Tage geschildert. Für unsere Familie kam noch hinzu, daß die Russen unseren Papa mitnahmen und die Hoffnung ihn jemals wiederzusehen, schwand in den nächsten Jahren ganz. Nach einigen Monaten tauchten die ersten Polen auf und die russischen Soldaten verließen das Land. Unseren Hof übernahm Pan Jaros und wir bekamen die Aufforderung, ins Dachgeschoß zu ziehen. Kurze Zeit später zog Pan Jaros mit seiner Familie und seiner Habe unten bei uns ein.

 Meine Schwester mußte bei dem neuen Hausherrn im Haushalt arbeiten und mir, dem Neunjährigen wurde befohlen, die zwei Kühe und das blinde Pferd am Tiegendamm zu hüten. So war ich Woche um Woche draußen am Wasser. Mittags kam meine Schwester (Imi) und brachte mir das Mittagessen, das ich schon heiß ersehnte. Sie sagte dann immer: "Laß für den Mani noch was übrig! "Die polnische Kost schmeckte mir immer herrlich. Meistens gab es dicke Milch und Stampfkartoffeln. So wurde mir im Laufe der langen Zeit der Tiegendamm und die Tiege immervertrauter und noch heute denke ich an diese längst vergangenen Tage.

Am 4. März 1947 starb Onkel Heinrich elendig an Entkräftung. Für einen "Sarg" sorgten wir zwei Jüngsten. Mit viel Mühe zerteilten wir einen zweitürigen Spind. Onkel Heinrich wurde hineingelegt, aber ihn die Treppe hinunter schaffen war für uns zu schwer. Da half uns Wohlgemut' s Sohn Hermann. Er packte den Sarg vorne und wir Kinder hinten an und ließen ihn - da wir zu schwach waren - übers Treppengeländer hinab rutschen. Auf der zugefrorenen Tiege wurde er zum Friedhof in Tiegenhagen gebracht.

Nicht lange danach wurde Muttchen sehr krank und wir mussten Schlimmes befürchten. Ärzte gab es nicht und richtige Lebensmittel, die sie brauchte, fehlten auch. Wir waren an einem Tiefpunkt angelangt, da brachte Frau Wohlgemut, die davon gehört hatte, uns Fische. Niemals werden wir vergessen, wie großartig sich diese Menschen verhalten haben, wo doch jeder für sich sorgte. - Muttchen schaffte es trotz aller Widrigkeiten, gesund zu werden.

Im Mai des gleichen Jahres wurden wir und viele andere Deutsche aufgefordert, unsere Heimat zu verlassen. In Tiegenhof (Nowy Dw6r Gdanski) hatten wir uns einzufinden. Mit unseren Rucksäcken fuhr uns Pan Jaros nachts zur Sammelstelle. Noch einmal blickten wir zurück auf die vertrauten Gebäude, die alten Bäume, dann verschwand alles in der Dunkelheit.

 Nach 46 Jahren - mehr als die Zeitspanne eines halben Lebens - bin ich mit meiner Frau, meinem Bruder Heinz mit Frau und meiner Schwester Irma in unsere alte Heimat gefahren. Nach so langer Zeit gehe ich wieder den Tiegendamn entlang. Viele Male bin ich in all den Jahrzehnten im Traum diesen Weg gegangen. Ich sehe die fast zugewachsene Böschung zur Tiege hinab. Auch die Tiege ist von Mummeln fast zugewachsen, aber wunderschön. Langsam gehen wir weiter und nun wird alles so unwirklich. Der Blick geht hinüber zu Wohlgemut's  Haus. Noch einige Schritte und wir sehen den alten Speicher, der halb verfallen ist. Gleich dahinter werden wir das Elternhaus sehen und den Hofplatz. Zögernd sehe ich dort hin und bin zunächst geschockt. Dieses häßliche graue Gebäude hat nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem von früher. - Einen Moment später: Ein überwältigendes Gefühl der Heimkehr nach so langer Zeit packt mich. Kurze Zeit danach werden wir im Haus herzlich aufgenommen. Der Sohn Janek Jaroslebt mit seinen Kindern uns Enkeln in den uns noch sehr vertrauten Zimmern und zeigt uns bereitwillig alles.

Nach Stunden, in denen wir in sämtliche Winkel geschaut haben, und uns über vieles unterhalten haben, ist es Zeit, Abschied zu nehmen. Unsere Augen erfassen noch einmal Altvertrautes und auch Neues, um es zu bewahren. Für einen Besuch auf dem Friedhof in Tiegenhagen reicht die Zeit nicht mehr, aber einen Rundgang durch Tiegenhof (Nowy Dw6r Gdanski) machen wir noch und dann gehen wir durch Petershagen (Zelichowo) zur Kleinbahnbrücke. An jedem Haus, an dem wir vorbeikommen, keifen Hunde, als hätten sie nie zuvor Menschen gesehen. Noch einige Schritte, dann ist der Blick zur Tiege nicht mehr durch Bäume verdeckt. Unten am Ufer sitzen Angler und genießen die Ruhe und die herrliche Aussicht auf das Wasser. Seitdem sind wieder einige Jahre vergangen und die Reise in die alte Heimat ist Vergangenheit.

Ich denke jetzt wieder öfter an die schöne Tiege und an Menschen, die damals dort gelebt und gewirkt haben und an meine die Erlebnisse in Kindertagen, die mich doch sehr geprägt haben.


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