Reinhard (Randy) Quiring, * 1934, + 2009
Roter Sonnenaufgang im Osten
Erinnerungen von Reinhard Quiring (Chilliwack, Canada)
Meine Kindheit
Sorgenlos verbrachten wir unsere Kindheit im schönen Weichselland. Mein Vater war Molkereibesitzer, und seine Molkereiprodukte, sowie Käse, Butter und andere Sachen waren einmalig in Qualität. Meines Vater`s Geschäft wurde durch die Regierung, nach jahrelanger Arbeit, 1939 geschlossen. So fand Vater als Beamter in Danzig auf dem Finanzamt eine Anstellung, wo er manchem Großbauer und Unternehmer hier und da einen Schreck einjagte. Als Finanzbeamter war man damals schon nicht sehr beliebt, aber mit Papa`s Humor hat sich immer wieder alles eingerenkt.
Der Opel
Unsere Eltern gehörten zur mennonitischen Kirchengemeinde in Tragheimerweide, zu der wir am Sonntag mit Papa`s Auto, einem Opel-Kapitän Jahrgang 1938, zur Kirche fuhren, wo er dort Prediger war. So fingen auch die Schuljahre an, und wenn man das Schulalter erst erreicht hat, lässt man einem keine Ruhe. In den Schulferien ging es dann zu Opa und Oma Bartels Bauernhof in Grunau; dort war Sammelstelle für die Fahrt nach Kahlberg an die Ostsee; dieses war jedes Jahr ein großes Ereignis. Kind und Kegel, alles was gehen und stehen konnte, nahm hieran teil. Von Grunau aus ging es bis nach Elbing per Zug, und von dort mit dem Dampfer an die Bernsteinküste.
Diese war nur für einen Tag, ein herrlicher Tag, und wenn man zurückdenkt, war es wie twei Wochen; die Dampferfahrt, der Geruch von Schiffsplanken und Anlegestellen, die meistens mit Teer getränkt waren; blauer Himmel, Meer und Wind, und am Horizont, Frauenburg mit ihren Kirchtürmen, und dann Kahlberg. So wurde der ganze Tag verbracht, mit baden und Bernsteine buddeln. Am Abend wollte keiner nach Hause, und wenn Papa und mein Großvater unter uns auftauchten, folgten wir alle wie Schafe. Als wir dann die Rückfahrt hinter uns hatten, fielen wir alle wie tot in die Betten. Bei Opa und Oma war niemals Mangel an Schlafmöglichkeiten.
Der Gebirgsjäger
Es war im Jahre 1941-1942 daß unser Vater zum Grenzschutz bei den Gebirgsjägern in Tirol an der Schweizer Grenze eingesetzt wurde. Unsere Mutter hatte natürlich mit uns fünf Kindern ihre Hände voll. Papa kam auch nicht zu oft nach Hause, und wenn er dann auf Urlaub kam, wackelte die Bude. Die Freude war groß. Unsere Großeltern wohnten in Grunau bei Elbing, von wo mein Großvater oft durch das Telefon meiner Mutter mit Rat und Tat beistand. Sonst schwang unsere Mutter die Wirtschaft eigenhändig. Das letzte Benzin Im März 1941 wurde meine erste Schwester Annemarie geboren; zu diesem Begebnis bekam Papa Urlaub. Und zur Feier des Tages wurde das letzte Benzin im Tank verfahren. Von jetzt ab ging der Sprit an die Wehrmacht. Das Auto gesteckt voll, ging es, es war März und noch viel Schnee, in die Weite. Als der letzte Tropfen durch den Motor des Opels ging, kam das Auto zum Stillstand. Unser Vater sagte immer, fragen kostet nichts; so kam es, daß ein Bauer mit Pferdegespann uns abschleppte, und unser Auto , von Pferden gezogen, auf unserem Hof Einzug hielt. Es war auch nicht lange danach, daß die Wehrmacht die Reifen abholte, und der Opel aufgebockt wurde, und wir manchmal unter Aufsicht darin spielen durften, bis zur Flucht.
Die Weichsel
Im Weichselgau auf grüner Au; es war da, wo der Sauerampfer am besten schmeckte, und die Gräben waren voll von diesem Gewächs. Tante Lenchen Quiring wohnte in dem Dorf Groß-Weide, wo sie als Gemeindeschwester vom Roten Kreuz aus arbeitete, und den Leuten beistand. Diese war in der Niederung, eine fruchtbare Gegend, und die Äpfel schmeckten großartig, besonders die Grafensteiner. Wir fingen Aale in der Weichsel, trockneten die Häute, und machten Peitschen daraus, die einen ziemlich knallenden Ton abgaben. Tante Lenchen wohnte in der Dorfkapelle, die oben eine kleine Wohnung hatte. Die Kleinbahn ging hier vorbei, und hielt hier auch an, und weiter nach Kurzebrack und Marienwerder. Bei dem Molkereibesitzer Krieg durfte ich mir hier ein kleines Taschengeld verdienen, indem ich Nägel aus Käsekisten herauszog und dann gerade klopfte. Die Pfennige wurden auf das Kleinbahngleis gelegt, und als der Zug weg war, sammelten wir die plattgedrückten Pfennige auf und machten Umhängemedallien daraus. Hier durfte ich bei meiner Tante hausen und hatte erinnerungsvolle Tage.
Die letzten Tage
Es war in den letzten Tagen vor der Flucht, daß am Wochenende, Sonnabend und Sonntag, aus jeder Familie eine erwachsene Kraft, Mann oder Frau, zum Panzergräben-schaufeln mußte. So zogen wir Gößeren mit Mutter mit, und mit Gesang und Klang ging es in das Feld hinaus; dies war im Herbst 1944. Der Gesang war immer eine große Stärke in unserer Familie, und fügte zu einer großen Verbundenheit, durch Gottes Gnade. Hier und da tauchte der Volkssturm auf, mit den riesigen Panzerfäusten, die wie Zaunspfähle auf ihren Schultern lagen. Eines morgens fuhr unsere Mutter auf dem Fahrrad in die Kreisstadt Marienwerder, die 12 km von uns entfernt lag, um dort Einkäufe zu erledigen. Als sie dann am späten Nachmittag nach Hause kam, erzählte sie uns, morgen müssen wir von hier fort.
Die Litauer
Es war am 18. Januar 1945 als wir unseren Heimatort Daubel, früher Neuwalde, Kreis Marienwerder, Westpreußen verließen. Es war eine litauische Familie, mit Pferden und Wagen, die ein oder zwei Tage vorher schon in einem Teil unseres Hauses einquartiert wurden. Man merkte eine bestimmte Unruhe bei den Erwachsenen, und es kamen schon vereinzelte Flüchtlinge durch unser Dorf. Ohne Zweifel, die Ostfront rückte näher auf unsere Heimat zu. Wir erwachten an einem kalten Wintersmorgen. Wie rot war die Sonne, die im Osten aufging. Der Litauer spannte die Pferde vor den Leiterwagen, und alles kletterte auf den Wagen. Wir setzen uns so hin, daß die Füße durch die Sprossen der Seitenleitern baumelten. Es wurde allerhand Gepäck aufgeladen; die größeren Kisten waren früher schon nach Konitz geschickt worden, die wir niemals wiedersahen. Der Litauerjunge, der jetzt wußte, daß wir abfuhren, und sein Vater uns nur bis zum Bahnhof nach Rachelshof brachte, fing sich jetzt meine Sachen und Schuhe anzuziehen, und dieses ärgerte mich und ich rief vom Wagen herüber, daß wenn ich jemals zurückkäme, mit ihm diese Sache regeln würde. Jetzt wurden die Pferde zum Ziehen angespornt, und der Wagen knirschte mit seinen Rädern durch den Schnee. Wir sangen jetzt, "Nun ade du mein lieb Heimatland", mit solcher Stärke und aus solch voller Brust, daß unsere Mutter sagte, wir sollten vielleicht ein bißchen leiser singen, es könnte sein, daß wir wieder zurückkämen. Die Regierung sprach ja von den Wunderwaffen, die die Front aufhalten, und Deutschland den Krieg gewinnen sollte.
Stadt Pelplin
Fauchend lief der Zug in die Bahnhofshalle ein, und für uns Kinder war dieses schon ein Erlebnis in sich selber, denn dieses dampfende Ungeheuer jagte uns doch ein bißchen Angst ein. Mit dem Personenzug ging es jetzt über Marienburg und bei Dirschau über die Weichsel, nach Pelplin; der ganze Bezirk Marienwerder sollte damals in und um diese Stadt hin evakuiert werden. So kam der Räumungsbefehl für Marienwerder, und bald darauf kamen die Trecks über die Weichsel. Wagen an Wagen kamen sie; viele von unseren Nachbarn waren dabei. Wir winkten ihnen noch zu, wir sahen sie niemals wieder. In der Stadt Pelplin bekam unsere Familie einen kleinen Raum zugewiesen, auf einem Gutshof, der am Rande der Stadt lag. Der Winter war kalt, und so wurde auch sofort Feuerholz für die Bollerofen organisiert. Ein eisiger Wind fegte durch die Stadt. Öfters ging ich für Mutter in die Stadt, u Einkäufe zu erledigen, so daß eines Tages, inmitten der Menschenmassen, ich auf unser liebes Fräulein Müller stieß. Diese war eine ältere ledige Dame, die als Schneiderin in Marienwerder tätig war, und oft zu uns nach Daubel kam, und für unsere Mutter schneiderte. Die Freude war groß, und noch größer, als ich mit ihr in unserem Lager ankam.
Der letzte Zug
Eiskalt war die Nacht, als um Mitternacht ein Läufer an die Fenster klopfte, daß der letzte Zug um einige Stunden von dieser Stadt abfährt. Die Eile war groß, und mit verschlafenen Augen taumelten wir in die Nacht. Jeder von uns Geschwistern, (wir waren damals im Alter von: Dorothea 3, Annemarie 4, Walter 5, Hans.Otto 6, und ich selber mit 10 Jahren) trugen alle etwas in den Händen. Es herrschte ein heftiges Schneegestöber; es war dunkel und kalt, und unsere Gestalten erschienen wie Schatten zwischen dem Licht der Straßenlaternen. Unser Fräulein Müller war eine ältere Person und klein in Gestalt, mit einem sehr verwachsenen Rücken, und vorwärtskommen war sehr langsam, so daß Mutter sagte: wenn die verschiedenen Sachen für uns zu schwer sind, sollten wir sie doch stehen lassen. Was stand da nicht alles an der Straße; hier hieß es, "Rette sich wer sich retten kann!" In diesem Moment blieb auch unser Sirupeimer stehen, den ich trug, um meinen Geschwistern beim Gehen zu helfen. Gen Westen im Viehwagon Am Bahnhof angekommen herrschte schon ein ziemliches Menschengewühl und jeder versuchte an den Güterzug heranzukommen, wo wir dann in Viehwagons verladen wurden. In der Ferne hörten wir schon die Front, das Sprengen des Eises und der Brücken, um die Rote Armee aufzuhalten, das Geheul der Stalinorgel, die schweren Geschütze und das Klappern der Maschinengewehre. Es muß dichter gewesen sein, als wir ahnten. Die Wagons waren gesteckt voll; die Leute saßen, lagen, und standen gepfercht auf dem Stroh. Das Stroh, das mit der Zeit matschig wurde, weil nur verschiedene Eimer als Toilette dienten und meistens alles besetzt war, so daß vieles daneben ging. Es ist damals hier und da vorgekommen, daß, wenn Menschen auf dem Zug oder Treck starben, dem Schnee beigesetzt wurden. Nämlich die Erde war zu hart gefroren und die Russen waren einem auf den Hacken, so war keine Zeit für ein Begräbnis.
Der Soldatenzug
Der Zug fuhr an, und keuchend zog er seine Last in das Ungewisse. Die Fahrt ging sehr langsam, und oft schob man uns auf das Nebengleis, wo wir manchmal für Stunden stehenblieben, weil die Lokomotive für die Front gebraucht wurde. Diese Anfahren und Stehenbleiben des Zuges hielt für ungefähr zwei Tage an. Als unser Zug wieder auf einer Stelle stehen blieb, stand auf dem Nebengleis ein Soldatenzug, welcher Mutter mit Kindern und älteren Leuten aufnahm. Man fand es immer wieder durch diese prüfende Zeit, daß die Engel Gottes ihre schützenden Hände über uns hielten. Fräulein Müller hing am letzten Faden, so stampften wir durch den hohen Schnee, dem Soldatenzug entgegen und dem würzigen Geruch der Feldküche. Zur Nacht legten die Soldaten sich alle auf den Fußboden, damit wir in ihren Betten schlafen konnten. In diesem Zug fuhren wir ein ganzes Ende, /es muß bis Stettin gewesen sein, welche Stadt an der Oder liegt), bis der Befehl kam, daß die Einheit wieder zurück zu der Front mußte.
Die Eintopfküchen
Überall an den Bahnhöfen waren Eintopfküchen aufgestellt, so daß die Leute sich etwas warmes, sowie Suppe, zum Essen holen konnten. Dieses fand mehr oder weniger auf den großen Bahnhöfen statt, so daß, wenn irgendwo vor unserer Ankunft eine Feldküche aufgebaut war, die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Reihen ging. Es war immer ein großer Auflauf, so daß, sobald der Zug anhielt, alles was gehen konnte dort hinströmte. Das Suppe holen war auch meine Arbeit, die ich gerne machte. Meine Mutter drückte mir die Kasterolle in die Hand, und los ging`s. Die größte Angst, die den meisten auf dem Herzen lag, war, daß der Zug vielleicht abfahren könnte, welches auch manchmal im Wirrwarr des Krieges vorkam. Viele Hände streckten sich nach dem riesigen Suppentopf mit ihren Töpfen und sonstigen Gefäßen, daß es manchmal unmöglich war, dort heranzukommen. So streckte auch ich unseren Aluminiumtopf durch die Menschenleiber, den der Koch dann vollfüllte. Viele Leute hatten aber leider keine Gefäße mitgebracht. So mußte man sehr aufpassen, daß einem der Topf nicht abhanden kam, welches bei mir der Fall war, so daß im nächsten Moment der Topf weg war. Eine andere Hand muß mir wohl den Topf abgenommen haben; die Suppe sollte für die ganze Familie sein, und so lief ich zu Mutter zurück und erzählte ihr mein Mißgeschick. Meine Heulerei war groß, aber das Kasterollchen, wie wir es nannten, war weg, und wenn man kein Gefäß hatte, gab es auch nichts zu essen.
Die Sowjetische Offensive
So entkamen wir der russischen Offensive, die einen Keil nach Westen trieb; dann nach Norden hin, zwischen Schlawe und Köslin, und bis zur Ostsee durchdrangen. In dieser Hinsicht wurden viele Menschen nach Osten hin von der Roten Armee abgeschnitten, sowie auch meine Großeltern und andere Angehörige, so daß unser Großvater, Opa Bartel, und andere bis über 1000 km hinter das Uralgebirge nach Rußland verschleppt wurden. Zu ungefähr dieser Zeit wurde auch das deutsche Lazarettschiff, die bekannte "Wilhelm-Gustloff", bei der Ausfahrt aus der Danziger Bucht, die eine volle Ladung von Flüchtlingen und Personal hatte, in der Ostsee von dem Torpedo eines russischen Untersee-Bootes versenkt, und mit vielen in den Wellen der Ostsee ihr Grab fand. Sechs in einemBett So kamen wir in das Mecklenburger Land. In der Nähe der Stadt Lübz wurden wir bei einem Bauern untergebracht. Hier wohnten wir für längere Zeit in einem kleinen Zimmer, und schliefen alle in einem Bett. Fräulein Müller aber hatte ihr eigenes. Hier schälten wir für die Bauernwirtschaft jeden Tag Kartoffeln; auch für unser eigenes Brennholz mußten wir sorgen. In der Nähe befand sich eine Landstraße, wo jeder zweite Baum abgeschlagen wurde, und weiter weg war ein Wald. So holte ich von hier und da das Holz zusammen. Unserem Fräulein Müller ging es manchmal nicht sehr gut; mitten beim Kartoffeln schälen bekam sie epileptische Anfälle und brach in den Kartoffelnschalen zusammen. Dieses war für uns immer ein schrecklicher Anblick, jedenfalls für meine jüngeren Geschwister, so daß ich mit einem Blick meiner Mutter meine Geschwister abführen mußte, bis wieder alles in Ordnung war.
Der letzte Urlaub
Unser Vater bekam um diese Zeit Urlaub, und wollte, wie immer, nach Hause. Personenzüge fuhren schon nicht mehr Richtung Heimat, sondern nur Güterzüge, die an die Front fuhren, so daß mein Vater die meiste Zeit im Bremserhäuschen fuhr, welches der letzte Wagen des Güterzuges ist. Auf diese Art und Weise kam er bis nach Pommern, wo auf einem Bahnhof ihn jemand fragte, "Mann, wo wollen sie hin? Wissen sie nicht, daß die "Roten Armeen" schon tief ins deutsche Land eingedrungen sind?" Unser Vater verneinte die Frage; man versuchte alles, um die Moral des deutschen Soldaten und die des deutschen Volkes aufrecht zu erhalten, hierbei aber jedem beim Glauben ließe, daß alles klar wäre wie dicke Tinte. Als sich mein Vater umsah, sah er die Wahrheit und kehrte zu seiner Einheit in Tirol zurück. So war die Verbindung mit vielen lieben Menschen und Familien zerrissen. Der Harz Unsere Mutter nahm jetzt Briefwechsel auf mit Tante Waldtraut Bartel, ihrer Schwägerin, die mit ihrem Vater, Paul Achenbach, in Wernigerode a/Harz wohnten. Wir wollten nämlich noch weiter nach Westen, denn keiner wollte dem Russen in die Hände fallen. Meine Tante schrieb auch bald darauf, daß wir nur kommen sollten, und daß noch Platz in ihres Vaters Haus sei. Mit Pferd und Wagen, den sich unsere Mutter mietete, fuhren wir nach Lübz zum Bahnhof. Keiner traute sich mehr recht auf die Straßen wegen der Tieffliegerangriffe. Es waren ungefähr 12 km bis zum Bahnhof und es wehte ein starker Wind, so daß der Mantel des Kutschers sich aufblies wie ein Ballon, und wir versteckten uns unter diesem. Da platzte ich heraus und sagte, der Mann wäre für uns wie eine Klucke, da konnte keiner mehr das Lachen aufhalten. Wie frohen waren wir, daß wir jetzt wieder in einem Personenzug einsteigen durften, welcher uns bis nach Wernigerode brachte, wo wir freundlich von Achenbachs aufgenommen wurden. Das Haus wurde immer voller, und die Luftschutzsirenen heulten Tag und Nacht, so daß Fräulein Müller und ich , wegen Platzmangel, auf anderen Stellen zur Nacht untergebracht wurden. Wernigerode ist eine schöne, am Rande des Harzes gelegene Stadt. Mit den damaligen Kur- und Heilanstalten, dem Roten Kreuz Lazarett, welches sonst als Hotel diente, die Villen und anderes, wurde sie von den Bombenangriffen verschont. Von hier schrieb unsere Mutter an unseren Vater in Tirol, und so bekam er Mutters Karte kurz vor dem Zusammenbruch des deutschen Reiches, und hiernach wußte, wo wir uns befanden. Der Amerikaner drang jetzt vom Westen ein; unsere Tage waren gezählt. Wir wohnten auf dem Berg, und so mußte ich jeden Tag herunter in die Stadt, um Milch und Brot einzuholen und mich an die Menschenschlangen anzustellen, die vor den Geschäften standen.
Der Angriff
Es war ein sonniger Tag; der Himmel war blau und man konnte fast bis zum Huy hinüber sehen, als ich mich aufmachte, um in die Stadt hinunter zu gehen. Der Weg führte am Roten Kreuz Spital vorbei; von dort hatte man einen weiten Blick in das Land. In diesem Moment sah man, daß in Richtung Derenburg – Vienenburg verschiedenes brannte, und ein großer Teil Rauch zum Himmel stieg, so daß dieses einen vernebelten Zustand abgab. Aus diesem Wirrwarr kamen Panzerverbände im Dreiecksformat auf Wernigerode zu. Ich stellte mich noch gerade an die Milchschlange an, als drei gewaltige Schüsse, die wohl von schwerer Artillerie herkamen, über das Wernigeroder Schloß herüber schossen. Es war in diesem Moment jedem klar, daß der Amerikaner seinen Einzug hielt. Niemals wieder sah ich, wie sich eine Menschenschlange so schnell auflöste. Wie ein Blitz rannte alles zu dem Stadtbunker hin, und ich mitten unter ihnen. Ich bin damals wie sowie heute noch niemals Liebhaber gewesen, irgendwie unter der Erde zu hausen oder zu arbeiten. Denn, so schnell ich in dem Bunker drin war, war ich auch wieder draußen. Die Stadt fällt, der Amerikaner hält Einzug Der Bunker füllte sich jetzt mit Menschenleibern, und wie ich schon erwähnte, überkam mich ein unheimliches Einengungsgefühl. Ich wollte doch nach Hause zu den Meinen; in dem Moment löste ich mich, wie ein V-I Geschoß, von dem Knäuel, das mich festhalten wollte. Außer Atem rannte ich jetzt an den Gärten ninauf, dem Hause zu, wo Onkel Paul mich mit starker Hand in den Keller zog, und ich in dem Augenblick einem Schauer von Granatsplittern entkam. Kurz darauf fiel die Stadt, und der amerikanische Kommandant sprach zu der Bevölkerung durch den Rundfunk. Es wurde eine Ausgehzeit vorgeschrieben, und danach mußte alles im Hause bleiben; auch die Fenster mußten verdunkelt werden. Wenn die Anordnung nicht befolgt würde, wollten sie in die erleuchteten Fenster hinein schießen. Dies war ja nur, um die Leute zu schikanieren und in Schach zu halten. Auch alle Waffen mußten jetzt abgeliefert werden; bestimmte Wertgegenstände, unter anderem Schifferklaviere, die die Amis aufschnitten, voll Schokolade und Zigaretten stopften, zuklebten, und an den Besitzer wieder zurückschickten. Es wurde denen nämlich etwas altes, wenn wir ihnen dauernd ankamen mit, "Guten Tag und chocolates please, und have you cigarettes please?" Widerstand in den Bergen Heftige Kämpfe spielten sich noch für die nächsten zwei Wochen, weiter in den Bergen, ab, wo sich noch Truppen der deutschen Wehrmacht aufhielten, und sich beiderseits noch ziemliche Verluste zufügten. Dann war auf einmal alles ruhig. Auch die riesigen Panzer, mit denen sie ankamen, werde ich nicht vergessen. An den wichtigsten Verkehrspunkten standen sie herum mit diesen großen Dingern, die mir wie Häuser vorkamen. Auf dem Marktplatz hatten sie auch einen stehen, getarnt mit grünen Zweigen. Die Bordkanonen waren dauernd in Bewegung. Aber als Kinder hatten wir keine Angst, und sie vor uns auch nicht. Und damit kam die Zeit, wo wir in die näheren Dörfer gingen, um zu hamstern. In der Stadt gab es nur rote Beete, und die aßen wir zum Frühstück, zum Mittag und zum Abendbrot. Unsere Mutter hatte noch verschiedene Wertgegenstände gerettet, die wir für Eßware in den Dörfern eintauschten, meistens für Kartoffeln. So gingen meine Mutter und ich oft in die Dörfer um zu hamstern; das Betteln war uns gegenan, aber wir sahen es für eine Notwendigkeit an. Dann kam der Waffenstillstand und der zweite Weltkrieg war für Deutschland, und der Welt, zu Ende. Die Kapitulation kam am 5.Mai 1945, ausgetragen von Karl Dönitz – dem Admiral zur See, weil er gesagt hätte, daß weitere Verteidigung zwecklos wäre. Sie wurde unterzeichnet von dem Generalstabsoberhaupt Alfred Jodl, am 7.Mai 1945. Dieses Dokument trat von Seiten der Alliierten als endgültiger Waffenstillstand am 9.Mai 1945 in Kraft. Japan, die Deutschlands Verbündete waren, ergaben sich erst nach dem Abwurf der Atombombe auf die Stadt Hiroshima, am 6.August 1945 und Nagasaki am 9.August 1945. Die Japaner unterzeichneten den formalen Waffenstillstand am 14.August 1945 in der "Tokio Bai", auf dem amerikanischen Schlachtkreuzer "U.S.S. Missouri".
Der Heimkehrer
Auch Papas Einheit in Tirol war aufgerieben worden, und alle deutschen Landser wurden hier und da zusammengetrieben. Mein Vater konnte gespannt erzählen. Er war Liebhaber von Bienen und der Imkerei, und sie ließen ihn auch bald darauf laufen, weil das mit den Bienen den Amis etwas altes wurde. Der Verkehr in Deutschland war lahmgelegt, und von Tirol bis zum Harz ist schon eine weite Strecke, so daß Vater nur zu Fuß oder per Anhalter sich weiterbewegen konnte. Eines Tages schweifte mein Blick die Hornstraße herunter, als ich einen Mann mit langem Bart erblickte, der ein von Kinderwagenrädern gebautes Karrchen mit einem Bündel drauf, mit ermüdeten Schritten den Berg heraufschob. Es war unser Vater! Die Freude der Heimkehr war groß! Jeder erzählte von seinem Ergehen, und es war bis tief in die Nacht, als die Großen und die Kleinen ins Bett gingen. Zwischen Harz und Huy Noch um das Jahr 1000 war die mächtige Gebirgsbastion vornehmlich mit Rotbuchen bewachsen. Heute ist der Harz ein Nadelwald, mit dem höchsten Berg, dem 1142 m aufstrebenden Brocken. Der Huy dagegen, ein niedriger Bergrücken, mit seinem Höchstpunkt von 314 m, ist mehr oder weniger mit Laubwald bewachsen, sowie Buchen und Eichen. Papa war wieder zu Hause, und wir waren so froh; wir waren von den Glücklichen, denn bei vielen war dieses nicht der Fall. Bald hierauf bekam unsere Familie eine Wohnung auf dem Land, in dem Dorf Heudeber a/Harz. Fräulein Müller blieb in der Stadt, wo sie später in ein Altersheim kam und dort starb. Ihr Leben war reich an Arbeit, um anderen Freude zu bereiten. Die Grenze zwischen Ost- und Westzone wurde weiter nach Westen verlegt, so daß der Amerikaner sich zurückzog, und so fiel dieser Teil des Harzes und Thüringen an die Ostzone ab. Viele Leute gingen damals mit nach dem Westen bei der Verschiebung der Grenze. Auch unsere Eltern hatten schon Fahrkarten für die ganze Familie. Unser Vater war aber müde von der ganzen Herumlauferei; irgendwie hatte uns dieser Teil des Harzes es angetan, und wir blieben. Aber der Mensch denkt, und Gott lenkt. Es war zu der Zeit in Heudeber, daß unser Großvater aus Rußland zurückkam, von wo sie ihn aus gesundheitlichen Gründen aus der Gefangenschaft entließen. Kein Wunder, wenn sie den Menschen dort in Sibirien nur Wasser mit Kohlblättern gaben. Von Wasser angelaufen kam Opa zu uns an, wo Mutter ihn dann wieder aufpebbelte; ich sehe die beiden jetzt noch am Herd stehen, wo sie den besten Borscht aus Schweinshacken, Hühnerkopf und –fuß, herstellten. Und wenn jemand aus den Weiten Rußlands zurückkam, waren es auch Gebetserhörungen.
Die Siedlungen
Durch das Rote Kreuz erfuhren wir, daß Oma mit Familie in Polen hinterblieben war; es dauerte aber noch einige Zeit, bis alle Deutschen aus Polen ausgewiesen wurden. In der Nähe war hier eine große Domäne, oder Gutshof, den die neuen Behörden durch die Bodenreform in Siedlungen aufteilte, wozu auch unser Vater und Großvater Antrag stellten. Pro Familie konnte man hier zwischen 30 und 40 Morgen Land beantragen. Die Schule fing jetzt auch wieder an, und das Leben schien wieder normal weiter zu gehen. Der Antrag für das Land kam durch, und so zogen wir auf den Gutshof, der von vielen Gebäuden und Ställen bestand. Der Hof hatte Wohnungen und Mietshäuser, wo früher und jetzt noch die Arbeiter und Deputanten wohnten. Hier bekamen wir eine kleine Wohnung mit Stall und Hof zugeteilt. Unser Geschwisterkreis vergrößerte sich auch; über die nächsten zwei Jahre wurden uns noch zwei Schwestern geschenkt, Ruth und Inge, und wir waren jetzt sieben an der Zahl. Auch Opas Familie kam aus Polen heraus, und die Freude der Wiedervereinigung war groß. So fingen auch die Großeltern mit ihrer Wirtschaft an. .... Übergang der Zonengrenze Wanderslust fing an mich zu packen und als Geselle war das ja alte Zunft, daß man wandern ging. Es war schon lange mein Vorhaben gewesen, Onkel Heinz und Tante Erna Albrecht und meine Oma Anna Albrecht, die bei ihnen wohnte, in Westdeutschland im Oldenburger Land zu besuchen. Ich bekam die Erlaubnis meiner Eltern, und auf zusammengebauten Fahrrad ging es mit meinem Onkel und dessen Freund der sinkenden Sonne entgegen, Westen. So manche Träne ist bei der Abfahrt gerollt. Es war eine mondshelle Augustnacht, als wir bei Veltheim die Zonengrenze bei Nacht und Nebel, wie es der Ausdruck mit sich bringt, überquerten. Das Bestehen einer Grenze, von einem Deutschland zum anderen, welches meiner Ansicht nach rauhe Politik war, und ist. Es war August 1951. Damals schon mußte man versuchen, der Grenzpolizei aus dem Wege zu bleiben. Das Getreide stand schon in Hocken, ein unvergeßlicher Anblick. Mit spähendem Blick schlichen wir uns von einer Hocke zur anderen, mit duckendem Schritt, das Fahrrad unter dem Arm. Dann, dort der Wald, und in der Weite ein Dorf, wo hier und da noch ein Licht brannte, Wegweiser an die wir uns halten mußten. Dann ein Aufatmen und mit voller Brust sangen wir Lieder, die uns in Ostdeutschland verboten waren, die wir fast schon vergessen hatten. Wir waren frei, und man konnte es in jeder Ader verspüren. Onkel Gerhard Bartel und Rudi Rieke fuhren mit dem Zug weiter, und ich auf meinem Fahrrad, welches mir damals als Fortbewegungsmittel diente. Hatte man ein Fahrrad, war man König der Chaussee. So zweigten sich unsere Wege, und ich befand mich allein auf weiter Flur. Es war Morgengrauen, als ich in der Stadt Goslar ankam und von einem Schupo ausgefragt wurde. Als er ausfand, daß ich zu Onkel Ewald Quiring nach Seesen wollte, sagte er zu mir, " Grüß ihn man recht, Ewals ist mein Freund."
Westdeutschland
Manchen Kilometer legte ich mit dem Fahrrad zurück; damals waren noch kaum Autos auf der Straße, meistens nur Militärfahrzeuge und Lastkraftwagenverkehr. Am Nachmittag kam ich dann in Seesen an, und besuchte dort Onkel Ewald und Tante Grete Quiring, die mich freundlich empfingen. Meine beiden Cousins Manfred und Ilse sausten wie Bienen um mich herum. Auch mit Onkel Gerhard und Rudi trafen wir uns hier noch einmal, die Onkel Bartel besuchten, der bei Schröders in Seesen in der Landwirtschaft angestellt war. Onkel Ewald war Liebhaber von Spaziergängen und so waren wir auch oft unterwegs, bis ich nach ein paar Tagen weiterfuhr. Mein Ziel war Cloppenburg i/O., das ich in zwei Tagen zurücklegte. Die Fahrradstrecke führte mich den ersten Tag über Seesen, Kreiensen und Todemann, Kreis Grafschaft Schaumburg. Hier kam ich gegen Abend an, wo man mir erlaubte, in der Scheune eines Bauern im Heu zu übernachten. Früh am Morgen mistete ich seinen Stall aus; als jetzt der Bauer in den Stall kam, hatten die Kühe neues Stroh. Dieser konnte es kaum glauben. Es heißt ja, eine Hand wäscht die andere, und so hatte die Bäuerin im Handumdrehen Frühstück für mich auf dem Tisch. So schlug man sich durch. Das Fahrrad ließ ich am Abend vorher in der Werkstatt, wo man mir eine Handbremse anbaute. Diesen Vorschlag machte mir ein Schupo in Seesen. Auf so etwas war die Polente scharf drauf, und es war ja auch gut. Von hier aus verläßt man das Weserbergland und kommt in die Ebene. Dieser Tag brachte mich durch Hameln, die Stadt des Rattenfängers; Minden, Diepholz, Ahlhorn und Cloppenburg. Bei Bückeburg – Minden kam ich in ein Kriegsmanöver, welches gerade in dieser Gegend abgehalten wurde. Die Schießerei war ohrenbetäubend. Es ist ein schönes Fleckchen Erde, diese bunte Heidelandschaft. Der Weg führte vorbei an der Lüneburger Heide und in der Nähe von Ahlhorn kam ich in ein schweres Gewitter und Regensturm. Im Nu war ich quittschenaß, und es nahm etliche Minuten bis ich unter dem Scheunentor eines Bauern Unterschlupf fand, wo auch schon andere Leute standen. Wie schön duften die Felder und die Heide wenn das Gewitter vorüber ist, und es fährt sich noch mal so gut. In diesen zwei Tagen legte ich zwischen Seesen und Cloppenburg ca. 270 km zurück. Es muß gegen Abend gewesen sein, als ich bei Onkel Heinz und Tante Erna Albrecht`s und meiner Oma Anna Albrecht und Cousins Eckhard, Heinz und Doris eintraf. Es waren sechs Jahre vergangen seitdem wir uns das letzte mal sahen. Die Wiedersehenfreude war groß. In den zwei bis drei Wochen, die ich bei Albrechts verbrachte, fuhr ich inzwischen von hier nach Brake a.d. Weser, und besuchte auch Onkel Hans und Tante Erna Quiring. Überall wurden Grüße übermittelt, und wenn man dieses persönlich tun kann, geht das noch mal so schön. Um den westdeutschen Paß zu erhalten mußte ich noch durch verschieden Durchgangslager. Das eine war Uelzen; auch diese Strecke Cloppenburg – Uelzen legte ich per Fahrrad zurück. Auf dem Wege besuchte ich noch Erwin Malzahn, ein Bruder von Tante Erna Albrecht, welcher in der Nähe von Uelzen wohnte. Soweit ich mich erinnern kann, war dieses die letzte weite Strecke, die ich mit einem Fahrrad befuhr. In diesem Lager mußte ich das Fahrrad aufgeben und bekam es, sowie eben später alles verlief, erst in Gronau/Westfalen wieder. Hier kam alles zusammen, groß und klein, jung und alt. Eines Tages, weil Uelzen dicht an der Grenze liegt, kam ein ganzer Jeep Volkspolizei aus Ostdeutschland. Sie warfen ihre Gewehre weg und baten um Asyl, welches ihnen auch genehmigt wurde. Es war wie eine Völkerwanderung von Osten nach Westen, und so wurden die Grenzen über die nächsten Jahre ziemlich verstärkt, sowie auch später die Wand um Berlin, die den östlichen Sektor einnimmt.
Die Auswanderung
So ging es von einem Lager in das andere, von Uelzen nach Hannover, und von hier nach Loccum bei Wunstorf/Heide. Hier hatte man von der alten Garde Spieße eingesetzt, und so wurde natürlich allerhand auf den Kopf gestellt. In diesem Lager waren ungefähr 500 Jungens im Alter von 17 – 25 Jahren; kein Wunder war hier Rabatz auf langer Welle. Um diese Zeit fuhr mein Vater nach West – Berlin, um von dort einen Brief an mich abzuschicken. Es war nämlich unser Eltern Vorhaben, nach Kanada auszuwandern. Keiner von der Lagerbehörde wollte mir dieses glauben, so daß ich einen Brief an das M.C.C. in Gronau losließ und ihnen die Lage, in der ich mich befand, erklärte. Es dauerte auch nicht lange, als die Lagerleitung einen ziemlich gesalzenen Brief erhielten vom M.C.C. in Gronau, und mich laufen ließen. Mit dem Zug ging es dann bis Gronau. Ich bekam eine Freikarte und brauchte nichts bezahlen. Gronau war Umgangslager der Mennoniten aus Rußland und Deutschland; die Wanzen fraßen uns hier fast auf, und wenn jemand in das Krankenhaus eingeliefert wurde, welches gezieferfrei war, es fast wie eine Erholung war. Bei einer Familie Viehfuß, die an der holländischen Grenze eine Bauernwirtschaft und Weinbranntbrennerei besaßen, fand ich bis zur Auswanderung als Hoftischler Arbeit. So kam Weihnachten, 1951, und zum ersten mal, daß ich es ohne Eltern und Geschwister feierte. Diese kamen dann bei dem großen Grenzübergang, welcher sich an verschiedenen Stellen der Ost- und Westzonengrenze abspielte, mit anderen Verwandten im Frühjahr, 1952, in den Westen. Der Übergang geschah nach wochenlanger Planung. Schon im Sommer, 1951, schlug die erste Gruppe unserer Verwandten den Weg nach Westen ein, so daß auf die Übriggebliebenen sehr aufgepaßt wurde, und Opa Otto Bartel in jenem Moment sagte: "Jetzt alle, oder keiner!"
Der letzte Schub
Jetzt wurde wieder alles stehen und liegen gelassen und dem Drang, frei zu sein von jeglichem Zwang, gefolgt. Wie ich schon erwähnte, passierte man die Zonengrenze an verschiedenen Stellen, und Sammelort war Seesen. Ein Reporter aus der Stadt berichtete damals folgendes: "Mennoniten flüchteten aus dem Sowjetzonen – Paradies, ihr erster Gang bei ihrer Ankunft in Seesen war zu der St. Andreaskirche." " Am vergangenen Sonntag erschienen mitten im Gottesdienst, der zu üblicher Zeit in der St. Andreaskirche abgehalten wurde, etwas erschöpft und erregt aussschauende Gottesdienstbesucher. Es handelt sich um eine Gruppe von Mennoniten, die etwa zwei Stunden vorher nach einer anstrengenden und gefährlichen Flucht aus der Sowjetzone bei befreundeten Mennonitenfamilien in Seesen gastliche Aufnahme gefunden hatten. Wir berichteten bereits im Sommer 1951 von einer solchen Gruppe, die sich zum zweiten Mal auf den großen Treck nach dem Westen aufgemacht hatte.Damals wie heute handelte es sich um Angehörige der Mennoniten – Gemeinschaft, die ursprünglich in Westpreußen beheimatet waren und durch die Kriegsereignisse im Jahr 1945 nach der Sowjetzone verschlagen wurden. Dort wurden sie als "Umsiedler", wie man sie nennt, im Zuge der Bodenreform im Herbst 1945 mit etwas Land und Vieh bedacht. Unter denkbar schwierigen Verhältnissen mußten sie nun daran gehen, ihre Existenz wieder aufzubauen. Doch alle Mühen und aller Fleiß fruchteten nichts. Das Abgabensoll lastete drohend auf ihnen und ließ sie nie zur Ruhe kommen. Dazu waren sie von Spitzeln umgeben, die sich sogar für ihre religiösen Andachten interessierten. Ein solches Leben bot ihnen keine Hoffnung für die Zukunft. So sagten sie sich los und gingen über die rettende Grenze. Doch das war einfacher gesagt als getan. Unter Beachtung der größten Vorsicht mußten monatelang die günstigste Gelegenheit erkundet werden. Dann war es soweit, daß sie alles, was sie sich bereits an Eigentum wieder erworben hatten, im Stich lassen und zum zweiten Mal nur mit einem Pferdegespann auf die große Flucht gehen mußten. Die wenige Habe, die sie am Leibe hatten, konnten sie unbehelligt mit hinübernehmen. Doch bei ihrer Ankunft in Seesen las man an ihren Gesichtern noch die Spannung und Erregung der letzten Stunden ab. Die Zonengrenze ist ja scharf bewacht, und mit einem Pferdegespann überwechseln, dazu gehört schon ein besonderes großes Glück. In wenigen Tagen werden sie den Spuren derer nachfolgen, die schon im Sommer denselben gefahrvollen Weg nach Westen beschritten hatten und jetzt in Kanada ein Leben voll Zufriedenheit führen könne." Soweit der Bericht des Reporters.
Der Atlantik
Bremen – Quebec – Mission, B.C. Das M.C.C. in Gronau stellte die benötigten Autos zur Verfügung, die meine Eltern und Geschwister, sowie Verwandte von Seesen, nach Gronau abholten. Nur durch Gottes Gnade waren wir wieder zusammen; es hätte auch anders sein können. Viele andere, sowie unsere Großeltern und Familie, wanderten schon vor uns aus. Unser Visa kam erst später im Jahr durch und am 28. Juni, 1952, verließen wir mit dem Schiff "Beaverbrae" den Hafen in Bremen. Schon früh am nächsten Morgen rief uns unser Papa auf das Deck und deutete auf die englische Küste, die jetzt in Sicht kam. Wir waren noch alle so verschlafen, der Morgentau hing uns noch in den Augen. Soweit las man von solchen Fahrten wie diese nur in Büchern, jetzt aber war es Wirklichkeit geworden. In der Ferne die Kreidefelsen Englands; die frische Seeluft der Nordsee und die Fahrt durch die Schottiscchen Inseln brachte ein bestimmtes Reisefieber an, das man nur bei Weltfahrern vernimmt. Für uns Kinder war dieses ein einmaliges Erlebnis, für Vater und Mutter doch eine gewisse Spannung, einem neuen Anfang entgegen zu fahren in einem fremden Land. Alles was man jetzt hörte war das monotone Stampfen der Schiffsmotoren, und mit 9000 Tonnen stachen wir in den Atlantik, der auch ziemlichen Wellengang hatte. Es war Sommer und wir schlugen die nördliche Route ein. Mit den par Tonnen, die der Kahn besaß, fing die Schaukelei an und viele Leute wurden seekrank, so daß die Fische auch ihr Teil abbekamen. Das Meer fing jetzt zu toben an, und unser Schiff tanzte wie eine Badewanne auf den Wellen herum. Es war ja auch kein Luxusdampfer, nur ein umgebautes Frachtschiff, so daß die Ladeluken jetzt zugemacht und alles angebunden wurde. Bei Windstärke 11 ruiß sich hier und da ein Kinderwagen los, und die Koffer sausten durch die Gegend. Das Vorwärtskommen war langsam und am 4. Juli 1952 legten wir mit 5,8 Knoten nur 145 Seemeilen zurück. In den letzten Tagen beruhigte sich das Meer auch wieder, und es fanden sich wieder mehr Menschen im Speisesaal ein. Land in Sicht Das Leben an Bord schien wieder normal zu werden und es erschienen mehr Leute auf dem Promenadendeck. Wir näherten uns dem nordamerikanischen Kontinent. Riesige Eisberge stellten sich in unsere Bahn, die von dem Golfstrom angezogen wurden. Es tönte wie ein Schrei durch die Brandung, "Land in Sicht!" Wir waren auch schon 10 Tage unterwegs; Meer und Wind wurden etwas Altes. Auch der Kapitän hörte unsere Erregung und bejahte, daß wir uns der Küste Neufundlands näherten. Es dauerte aber noch mehrere Stunden, bis das Schiff in den St. Lorenz – Strom einfuhr. Mehr und mehr Passagiere erschienen an der Reeling, jeder starrte dem neuen Land entgegen. Auch der Gedanke, von wilden Indianerstämmen überfallen zu werden, blieb nicht aus.
Quebec City / Kanada
Erst spät am Abend fuhr unser Dampfer in die Stadt Quebec ein, wo wir durch die Nacht auf dem St. Lorenz Fluß vor Anker gingen, so daß wir wegen Platzmangel erst am nächsten Tag anlegen konnten. Es war eine der wärmsten Nächte in der Geschichte dieser Stadt. Das Thermometer schwankte zwischen 100 – 105 Fahrenheit, und viele von uns schliefen auf dem Deck. Die Mannschaft veranstaltete ein kleines Abschiedsfest an diesem Abend, und bei dem Klang eines Schifferklaviers sagten wir der "Beaverbrae" Lebewohl. Unten am Schiff legten kleinere Boote an, die mit der Besatzung dieses und jenes eintauschten. Mein bischen Englisch, das ich damals beherrschte, löste sich in Wohlgefallen auf, weil man hier hauptsächlich französisch sprach. Den nächsten Tag mußten wir durch den Zoll, wo unsere Überseekisten aufgemacht und unter die Lupe genommen, und uns unsere kanadischen Landungspapiere ausgehändigt wurden. Wir brachten auch etliche Fahhräder mit, (die hierbleiben mußten und gegen etwaige Maul- und Klauenseuche entlaust wurden), die man uns später nachschickte. Diese Seuche hatte wohl gerade in 1952 den Bauern in Kanada ziemliche Verluste an Tieren zugefügt. Von Küste zu Küste Der Zug, in den wir jetzt verladen wurden, muß wohl ein Museumsstück der C.P.R. gewesen sein. Die Gepäckträger in den Personenwagen, die aus furniertem Sperrholz bestanden, hingen im Viertelbogen von der Decke bis zum oberen Teil der Fenster hin. Wenn man diese herunterließ, konnte man auch darin schlafen, so daß man in diese von Ketten gehaltenen Hängematten dauernd mit dem Kopf hineinlief, und manche Leute, sowie auch unser lieber Papa, am liebsten Kleinholz aus diesen Dingern gemacht hätten. Es war jetzt der 9. Juli 1952; der Zug fuhr schwer an, mit einer Ladung von Menschen und ihren Habseligkeiten, in ein neues Land. Dann endlich war es so weit, mit der Eisenbahn durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu fahren. Wir verspürten es durch seine Größe und Weiten, vorbei an den großen Seen, der endlosen Prärie und durch die Rocky Mountains mit seinen Schluchten und Tälern. In Winnipeg/Manitoba kam Opa Otto Bartel, der dort gerade einer Konferenz beiwohnte, und Onkel Herbert Bartel auf den Zug und begrüßten uns in der neuen Heimat. In Calgary/Alberta hielt der Zug für einen Tag an, wo gerade um diese Jahreszeit die alljährliche "Calgary Stampede" abgehalten wurde. Dieser Aufenthalt gab uns den ersten Einblick in das Leben und Treiben einer kanadischen Stadt, und mit 25 Cent in der Tasche versuchte man sein Bestes, um damit auszukommen; und so wie ich mich erinnern kann, lösten sich diese in Eiscreme auf. Mit einem Freund, Heinrich (Herny) Rosenfeldt, der auch mit uns herüberkam, durchkreuzten wir die Stadt. Die Größe der Berge und die Gipfel der Rockys hinterließen einen mächtigen Eindruck auf uns und wir haben sie schon damals in unser Herz geschlossen. In einem Dorf, daß sich Agassiz nannte, hielt der Zug an. Viele von der Seite des Onkels Heinrich Bartel, Opa Bartels Bruder, welche schon vor uns ausgewandert waren, schüttelten uns durch Fenster und Türen die Hände und hießen uns in Kanada willkommen. Der bekannte Ausruf des Schaffners: "All aboard!" ertönte am Bahnsteig und weiter ging es, denn Mission City, B.C. war Endstation. Hier warteten schon Leute aus der Ost/Chilliwack Mennonitengemeinde, die für uns gebürgt hatten, und uns in ihr Heim zu einem Abendbrot abholten. Wir waren ja schon einige Tage und Nächte auf der Bahn und man sehnte sich nach einem bisschen Häuslichkeit; und der Hühnerbraten bei Wilhelm Rempels traf den Nagel auf den Kopf. Unsere Familie bekam ein Angebot, in der Himbeerernte zu helfen, und wir fingen den nächsten Tag an. Bei Jake Berg an der Mc. Guire Rd. In Sardis, B.C. zogen wir in ein kleines Häuschen ein, welches unseren Eltern ein Jahr gratis zur Verfügung gestellt wurde. Diese Gegend liegt außerhalb der Stadt Chilliwack und ist von Farmern umgeben. Wir waren unserer zehn an der Zahl; Vater und Mutter, wir Geschwister und Tante Lenchen, Papas Schwester. Hier bot sich uns die Gelegenheit in der Landwirtschaft zu arbeiten. Die Reiseschuld lag wie ein Bündel auf unseren Schultern und mußte auf dem schnellsten Wege abgezahlt werden. Wehe, wenn sich irgend jemand ein Car kaufte und dann mit den Zahlungen hinteran blieb. Unser Papa war ja Prediger und diente öfters am Sonntag mit dem Wort. Ab und zu wurde er gebeten, zu denen zu gehen, die nicht zahlten. Diese ging gegen Papas Natur und er gab die Mahnungsarbeit später auf. Arbeit war hier vielfältig. Wir arbeiteten in der Ernte von Erdbeeren, Himbeeren, Hopfen, Bohnen, Erbsen, Mais und anderer Arbeit. Im Herbst fand ich Arbeit bei der C.N.R., der nationalen Eisenbahn und arbeitete hier über 2 Jahre im Tunnelbau bei Boston-Bar und Ashcroft, B.C. Im Spätsommer 1953 erwarben unsere Eltern eine Farm in Agassiz, B.C., ein neues Stück Erde, ein zu Hause. Unser Vater wurde von hier an sehr krank und leidetet sehr. Auch für unsere Mutter und Geschwister war es nicht leicht. Am 7. Februar 1956 wurde er erlöst und ging über in die ewige Heimat. Zu der Zeit, wo ich dieses niederschreibe, ist Tante Helene die einzig Überlebende von Vaters Seite. Aber das Leben ging weiter, und so ist es auch gewollt. Mutter verkaufte später die Farm und kaufte ein kleineres Grundstück in Agassiz. Hier blieb sie auch nur für eine kurze Zeit und zog dann nach Calgary/Alberta, wo sie sich seßhaft machte. Wir Kinder wuchsen heran und wurden flügge. Wir suchten und fanden die Ehepartner des Lebens und bauten unsere eigenen Familien auf, eine schöne Zeit, die es nur einmal im Leben gibt.
Gott sei Dank, ihm die Ehre.
Erinnerungen von Reinhard Quiring Weihnachten 1979 North Vancouver, B.C.