F a m i l i e n Q u i r i n g

                                            Text von Alfred comp

Elbląg – ausgesprochen: Elblong – ist eine Stadt in der Wojewodschaft Ermland-Masuren in Polens Nordosten. Bis zum März 1945 hieß die Stadt Elbing und gehörte zum deutschen Regierungsbezirk Danzig in Westpreußen.

In diesem Elbing, am Frischen Haff an der Ostsee gelegen, wurde mein Vater Alfred Martin Quiring am 21. Februar 1922 geboren (verstorben am 6. August 2018 in Berlin-Pankow)). Er war ein Nachzügler. Seine Eltern, der Molkerei- und Gutsverwalter Johannes Quiring (1885-1945) und die Köchin und Näherin Emma Quiring, geb. Krause (1884-1961) hatten da bereits zwei Töchter: Charlotte (1909-2003) und Erika (1913-2001). So wuchs der kleine Alfred sehr behütet in einem Frauenhaushalt auf, denn Vater Johannes war als Verwalter meist auf den Landgütern der Umgebung beschäftigt.

Von der Grundschulzeit in den 1920er/1930er Jahren blieben Alfred keine besonders schönen Erinnerungen (aus seinen biografischen Notizen, die er noch kurz vor seinem Tode 2018 aufgezeichnet hatte): „10 Jahre pädagogik, fast durchweg von alten herren geleistet, die noch den rohrstock als erziehungsmittel praktizierten. der sportunterricht hatte den charakter der vormilitärischen ausbildung. Sportlehrer mit schnarrendem leutnantston.“

Von der darauffolgenden Knabenmittelschule blieb ihm vor allem die goldbetresste Schülermütze in unerfreulicher Erinnerung. „man grüßte, indem man die mütze zog. Das wurde auf dem schulhof geübt. das MÜTZEZIEHEN: ihr wurden in weiteren schuljahren weitere goldtressen angeheftet.“

Umso mehr gefielen ihm Stadt und Umgebung: „marktbuden am elbingfluss. herumstöbern am fleischmarkt...gerüche aufnehmen. Geräusche sortieren.freuen auf ferien bei grossmutter justine in neu-dollstädt (nove dolno). Erreichbar mit einem kleinen damfer. überladen mit marktkörben und kisten. müde alte menschen, die ihre landprodukte in der stadt zu geringen preisen verkauften. oma justine hatte ihren stand gegenüber dem stadt- und grenzlandtheater (polens nähe). verkaufte auf gemietetem bänkchen grünzeug, gemüse und eier...

klein, agil, gewitzt saß sie auf mitgebrachtem schemel unermüdlich, ich besuchte sie öfter.von ihren einnahmen bekam ich ein bruchteil ab, einige pfennige, für die ich mir fix kokosflocken kaufte.“ Gern besuchte er sie auch in Neu-Dollstädt, wo er an den Wochenenden – er war da 13, 14 Jahre – am Klavier zum Tanz aufspielte.

Nach der unerfreulichen Schulzeit folgte die Lehre in der Schmiedewerkstatt bei Kreishandwerksmeister Jordan: „militant. Immer rotgesichtig. forsch. im büro: frau jordan. genannt frau meisterin. was ich nicht einsah und weiterhin frau jordan sagte.“

Als der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 von Hitler vom Zaun gebrochen wurde, war Alfred noch Lehrling. Polen wurde erobert, Frankreich besetzt. Und er stand in der Werkstatt. Dabei träumte der junge Bursche von Heldentaten, wurde aber nicht eingezogen. Warum nicht? Es stellte sich heraus, dass Meister Jordan Lehrling Alfred hatte zurückstellen lassen, schließlich sei er in einem „kriegswichtigen Betrieb“ angestellt. Der Lehrling wütet still vor sich hin, meldet sich selbst zur Musterung für das Flugwesen. Und wird zurückgewiesen: ein Augenfehler.

Schließlich landet er bei den Funkern, wird an die Atlantikküste versetzt. Dort wird er während der Landung der Alliierten schwer am Rücken verletzt, entkommt aber dadurch dem „Fleischwolf“ am Atlantik. Nach wochenlangem Lazarettaufenthalt geriet er „fünf vor zwölf“ in eine Sondertruppe, die die Sowjets im Osten aufhalten sollte. Die löste sich blitzschnell auf, als sie verspätet von der Kapitulation der Wehrmacht und dem Tode Hitlers erfuhr.

In den allgemeinen Wirren des Kriegsendes hatte er einfach Glück. Bei seiner Wanderung quer durch Deutschland zu einem Ort in Mecklenburg, wohin seine Familie auf der Flucht aus Elbing gelangt war, wurde er nicht erschossen, geriet nicht in Gefangenschaft. „alleingang durch fremdes gelände. nun ganz auf mich gestellt. bekleidet mit einer wehrmacht-keilhose und gefundener russenbluse. sorgfältige geländegänge. telegramm meiner mutter in der hosentasche... finde endlich in bergrade bei parchim mutter, vater, schwester. ...und eine vielzahl russischer soldaten mit einer vielzahl von kühen. Ich gab mich als ´maschinist´ aus, der die wasserpumpe auf dem hof betreuen soll. das wurde geglaubt, die kühe brauchten trinkwasser.“

Die Irrfahrt war noch nicht zu Ende. Von Bergrade wechselten die Quirings in ein Nachbardorf, das sonderbarerweise einen weltberühmten Namen trug: Rom, doch dieses Rom lag in Mecklenburg. Hier verdingten sich Vater Johannes und Sohn Alfred als Knechte bei Großbauern, Mutter und Schwester kamen beim Dorfschullehrer Otto Stüdemann unter. Alfred fand eine zusätzliche Einnahmequelle, indem er sonntags im Dorfkrug zum Tanz aufspielte.

Da wurde die Familie von einem harten Schicksalsschlag ereilt: Johannes Quiring verunglückte am Weihnachtstag 1945 beim Transport von Langholz tödlich. Er wurde auf dem Römer Friedhof beigesetzt.

Alfred kam derweil der Tochter des Lehrers Stüdemann näher, er heiratete sie 1948. Da lebten beide schon in der Nachbarstadt Lübz, noch heute bekannt für seine Bierbrauerei. Hier begann er eine staatlich unterstützte Umschulung zum Holzbildhauer bei dem Künstler Reinhard Schmidt. Hier wird 1948 sein Sohn Manfred geboren. „zeichne nebenbei plakate für auftritte des gemischten chors, dem ich inzwischen angehöre. mache aus stacheldraht nägel. tausche sie gegen butter ein. Zeichne das porträt des sohnes der wirtin. Für eine wohnungsmiete!“

1951 kommt Tochter Anngret zur Welt. Da lebt die Familie schon in Bad Wendorf bei Wismar. Alfred ist Reinhard Schmidt an die gerade in Wismar gegründete Fachschule für angewandte Kunst gefolgt, wo er zwei Jahre lang den Neuaufbau der Institution organisatorisch betreute.

Doch irgendwie lässt ihn die Musik nicht los. In Lübz hatte er nicht nur im Chor gesungen, sondern trat auch mit einem Soloprogramm mit einer eher regional bekannten Geigerin auf. Sie drängte ihn, sich völlig dem Gesang zu widmen.

Voller hochfliegender Träume fährt er heimlich, seine Arbeitgeber in Wismar wussten nichts davon, Gattin Erika vermutlich auch nicht, zu einem Vorsingen ins Konservatorium nach Schwerin. Dort legt man ihm erst einmal ein Gesangsstudium an der Musikhochschule Berlin nahe. Immerhin.

Also auf nach Berlin zum Studium, nachdem die Aufnahmeprüfung bestanden war. Er holt die Familie später nach, die Unterkunft in einem Ort am Stadtrand findet. Finanziell ging es mehr als knapp zu, von einem Stipendium war eine vierköpfige Familie nicht zu ernähren. Gattin Erika versuchte, durch Näh-, Strick- und Webarbeiten etwas dazuzuverdienen. Später arbeitete sie als Sprechstundenhilfe beim örtlichen Zahnarzt.

Alfred war da schon wieder unterwegs. Noch ohne Gesangsabschluss, hatte er zunächst ein Engagement am Kreistheater Annaberg/Buchholz gefunden. Wenig später dann ein Engagement in Cottbus. Doch es zog ihn nach Berlin. Er holt das Staatsexamen im Fach Gesang an der Musikhochschule in Berlin nach (1965). Nach einem weiteren Vorsingen, dieses Mal an der Komischen Oper, schon damals ein renommiertes, international bekanntes Haus, schlug er eine andere Richtung ein.

Man hatte ihm zwar eine schöne Stimme bescheinigt, allein ihr fehle „das Volumen“ für eine größere Bühne, sagten ihm seine Prüfer. Also verlegte sich Alfred auf Liederprogramme, die er selbst zusammenstellte. Mit wechselnden Begleitungen ging er auf Tournee in der kleinen DDR, bereiste in der Sommersaison die Ostseebäder. Es existieren noch ein paar Rundfunkaufnahmen, auch bei den populären Rügen-Festspielen hatte er einen Auftritt. Gern erzählte er seinen Kindern von seiner Atlantik-Überquerung: An Bord des Urlauberschiffes „Völkerfreundschaft“ durfte er während der Fahrt nach Havanna das Bordprogramm bereichern.

Anfang der 1970er Jahre trennte Alfred sich von einer Gattin Erika. Mit Gerda Glienke, die er im hohen Alter auch heiratete, lebte er bis zu seinem Lebensende zusammen.

Nachdem Alfred Quiring 1987 in Rente gegangen war, trat er nur noch selten auf. Er wandte sich der Malerei und Grafik zu und begann zu schreiben. Er verfasste Taschenbücher, in denen er seine Erinnerungen festhielt: Bauernball bei Robert; Mach doch weiter, Mensch! Was da bleibt. Briefe 1945-2008; Friesische Blätter.

Alfred Martin Quiring starb am 6. August 2018 in Berlin-Pankow in der Caritas-Klinik Maria Heimsuchung. Er wurde in Friedrichsthal bei Oranienburg beigesetzt.

* Der Text in kursiver Schrift stammt aus seinen Notizen, die er mir wenige Monate vor seinem Tode übergab.

 

                     

                         Familie Quiring in den 20er Jahren

 

Mit freundlicher Genehmigung von Manfred Quiring, Sohn des Alfred Quiring